Der Begriff Nachhaltigkeit ist überall zu lesen, er wird fast schon inflationär verwendet. Der Begriff versucht etwas zu vereinen, was ansonsten schwer zu greifen ist, nämlich eine Vielzahl von Problemen, die global statt finden und trotzdem in unserem Alltag meist unsichtbar bleiben. Aber kann der Begriff das überhaupt?
»Die selbstorganisierenden Prinzipien von Märkten, die in den letzten 10.000 Jahren in menschlichen Kulturen entstanden sind, stehen inhärent im Widerspruch zu den selbstorganisierenden Prinzipien von Ökosystemen, die sich in den letzten 3,5 Milliarden Jahren entwickelt haben.«
- Gowdy and MacDaniel
In den 1960er Jahren begann ein kollektives Bewusstsein über unser unverantwortliches Verhalten zu wachsen. Uns wurde zunehmend bewusst, dass es nicht möglich sein wird unsere bisherige Lebensweise zu erhalten, die abhängig ist von der unendlichen Nutzung endlicher Ressourcen. Über 60 Jahre später passiert immer noch sehr wenig, sehr langsam. Seitdem wurden weiterhin Millionen Quadratmeter Regenwald zerstört, Gewässer und Luft verschmutzt, hunderte Arten sind für immer ausgestorben. Gleichzeitig wurden unzählige Bücher und Artikel über diese Probleme geschrieben, Filme veröffentlicht, Kampagnen und Organisationen wurden ins Leben gerufen, es fanden politische und wirtschaftliche Konferenzen statt, auf denen die Probleme der Menschheit anerkannt wurden.
1992 auf der ersten „Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung (UNCED)“ in Rio de Janeiro (Brasilien), wurde das Konzept der „nachhaltigen Entwicklung“ vorgestellt. Es folgte 100 % Entwicklung, 0 % Nachhaltigkeit. Auf der Rio +20-Konferenz 2012 war das vorgestellte Konzept „grünes Wachstum“ und es trat ein ähnliches Ergebnis ein: Wachstum ja, aber nicht Grün.(1)
Das Problem ist da, die Fakten liegen vor uns, es kursieren genügend Informationen darüber, es sollte keine Zweifel mehr darüber geben, dass wir vor einer enormen Herausforderung stehen. Dennoch sind bislang kaum Änderungen eingetreten. Immer noch werden Fortschritte in die falsche Richtung gemacht.
Warum ist es so schwer sich dem Problem zu stellen und eine Lösung zu finden?
Zunächst gibt es kein einzelnes Problem. Es handelt sich um eine Masse an Problemen: Waldrodung, Artensterben, Umweltschmutzung, Kohlenstoffemissionen, klimatische Veränderungen, Ressourcenknappheit, verantwortungsloser Ressourceneinsatz, Armut, wirtschaftliche Ungleichheit, Kriege, Flucht, Arbeitslosigkeit, Überschuldung und so weiter. Einige dieser Herausforderungen sind größer, andere kleiner, alle haben unzählige Ursachen und diverse Einflussfaktoren, sie sind miteinander verbunden und voneinander abhängig. Die Designtheoretiker Horst Rittel und Melvin Webber nennen solche Probleme daher „Wicked Problems“ – bösartige Probleme.(2) Umweltzerstörung, Terrorismus und Armut sind klassische Beispiele für „Wicked Problems“. Die Umstände von „Wicked Problems“ ändern sich ständig, deshalb sind sie nicht einfach zu beschreiben. In der Regel sind sie Symptome für andere Probleme. Es gibt keine richtigen oder falschen Lösungen, nur bessere oder schlechtere. Meist betreffen die Probleme eine große Anzahl von Beteiligten, daher werden komplexe Strategien benötigt, um „Wicked Problems“ anzugehen.
Um eine Lösung für „Wicked Problems“ definieren zu können, wird der Begriff „Nachhaltigkeit“ verwendet.
Aber schafft der Begriff das? Was versucht Nachhaltigkeit tatsächlich zu lösen und wie? Was wollen wir nacherhalten, wenn so viele Dinge schief laufen?
Reichtum kann nicht erhalten werden, wenn wir Armut bekämpfen wollen. Unendliches Wirtschaftswachstum kann nicht erhalten werden auf einem endlichen Planeten. Wenn wir die Natur und die Artenvielfalt erhalten wollen, sollten wir wohl am besten die Erde verlassen und ins Universum ziehen, damit sich alles erholen kann von der „Homo-Sapiens“-Krankheit. Das wird so schnell nicht möglich sein, daher müssen Lösungsansätze anders aussehen. Diese anspruchsvollen Aufgaben haben viele Parameter die mit einspielen. Es gibt keinen Masterplan um sie zu lösen. Deshalb machen weltweite Konferenzen wenig Sinn, die darauf abzielen alle Probleme auf einmal zu lösen. Hauptsächlich weil zu viele mächtige Interessentengruppen nicht die gleichen Belange teilen wie der Planet Erde.
Es ist der Begriff selbst, der an sich versucht die Lösung zu sein, indem er alle kleinen Lösungen umfasst die es bereits gibt.
Nachhaltigkeit steht für eine Welt im Gleichgewicht: keine Armut, keine kapitalorientierte Gesellschaft, keine Umweltzerstörung, kein Leiden. Er beschreibt die Notwendigkeit einer anderen Entwicklung, nicht nur einer anderen wirtschaftlichen Entwicklung, sondern einer Entwicklung der Gerechtigkeit. Nachhaltigkeit will Wirtschaft, Umwelt, die Menschen und kulturelle Unterschiede in Einklang bringen. Er vereint soziale, ökologische und ökonomische Faktoren und bezieht alle globalen Perspektiven mit ein. Vor allem aber vereint der Begriff Ideen, Handlungen, Projekte und Organisationen die sich den „Wicked Problems“ stellen. Denn diese enorme Menge an Problemen braucht eine enorme Menge an Lösungen. Diese Lösungen finden überall statt, ob kommunal oder global. Das urbane Gartenprojekt ist ein Teil von Nachhaltigkeit, genauso wie der europäische Beschluss Plastikstrohalme zu verbieten.
„Information allein führt nicht unbedingt zu einem Wandel.“(4)
Es ist gut bescheid zu wissen, über die Herausforderungen vor denen wir alle gemeinsam stehen, aber es ist auch an der Zeit in konkrete Handlungen überzugehen. Der Sozialpsychologe Harald Welzer teilt die Meinung, dass der Schlüssel zu einer nachhaltigen Zukunft im Tun liegt, nicht in der Verbreitung von Besorgnis und Alarmismus, weil sie keinen Entwurf dafür liefern, wie wir leben wollen.(3)
Die Antwort lautet also, dass es keinen einen Masterplan für die Transformation zur Nachhaltigkeit geben wird. Es macht also wenig Sinn darauf zu warten, dass etwas passiert oder jemand etwas unternimmt. Es gibt aber einen kollektiven Bildungs- und Handlungsprozess. Denn wenn wir die Probleme verstehen, können wir alle ein Teil der Lösungen sein. Also Ärmel hochkrempeln und los legen – jedes nachhaltige Projekt ist eine weitere Lösung für die „Wicked Problems“, egal wir klein es uns erscheint.
1„Das gute Leben gibt es nicht umsonst: Die Welt kann auf Umweltkonferenzen nicht erhalten werden“, H. Welzer, Der Spiegel, 26/2012, Spiegel Verlag, Hamburg
2„Strategie als Wicked Problem“, J. C. Camillus, Harvard Business Review, The Magazine, Mai 2008, http://hbr.org/2008/05/strategy-as-a-wickedproblem/ ar / 1
3„Das gute Leben gibt es nicht umsonst: Die Welt kann auf Umweltkonferenzen nicht geführt werden “, H. Welzer, Der Spiegel, 26/2012, Spiegel Verlag, Hamburg)
4„Transformatives Lernen für nachhaltige Bildung“, J. Boehnert
Fotos: Beitragsbild Illustration Angela Prochnow | Grafik „Wicked Problems“ Alana Zubritz | Grafik „Eine Lösung gibt es nicht“ Alana Zubritz